X-Ray in der Völklinger Hütte: Röntgens Blick durchdringt Körper und Seelen
Es ist die erste Ausstellung, die dem technologischen, politischen und künstlerischen Einfluss der Röntgenstrahlen gewidmet ist. Die Völklinger Hütte entführt die Besucher in 130 Jahre Erforschung der verborgenen Seiten der Menschheit.

Nur die Gebläsehalle der Völklinger Hütte konnte eine Ausstellung dieser Größenordnung aufnehmen. Seit dem 9. November und bis zum 16. August 2026 zeigt das ehemalige Stahlwerk auf 6.000 Quadratmetern „X Ray – die Kraft von Röntgens Blick“. Werke von 79 Künstlern, Wissenschaftlern, Regisseuren, Schriftstellern, Fotografen, Architekten und Modedesignern erforschen die teils medizinisch bedeutenden, teils erschreckenden Anwendungen der Erfindung von Wilhelm Conrad Röntgen aus dem Jahr 1895.

Dr. Ralf Beil, Generaldirektor und Kurator der Ausstellung, in der von Wim Delvoye geschaffenen Kapelle.© Celine Felber / Weltkulturerbe Völklinger Hütte.
„Als UNESCO-Weltkulturerbe ist die Völklinger Hütte verpflichtet, die Wissenschaft der Welt auf die attraktivste und zugänglichste Weise zu vermitteln. Ein Rundgang durch die X-Ray-Ausstellung dauert zwei Stunden oder einen ganzen Tag – doch braucht man weit mehr Zeit, um alle ihre Dimensionen zu erfassen“, betont Dr. Ralf Beil, Generaldirektor des Weltkulturerbes Völklinger Hütte und Kurator der Ausstellung.
Was Röntgenaufnahmen über die menschliche Seele verraten
Kaum war die Entdeckung des bayerischen Forschers bekannt, verbreitete sie sich rasch auf der ganzen Welt. Wilhelm Conrad Röntgen, der erste Chemie-Nobelpreisträger der Geschichte, hatte eine völlig neue Möglichkeit geschaffen: Materie zu durchdringen. Diese Fähigkeit faszinierte die Menschen überall.
Die Ausstellung X-Ray lädt zu einem wissenschaftlichen, politischen und künstlerischen Rundgang durch 130 Jahre Forschung ein. Die Reise führt über sechs Kontinente und sogar bis ins Weltall. Die Ausstellung zeigt viele unterschiedliche Seiten der Röntgentechnik. Sie ist manchmal witzig, manchmal erschütternd und gibt Einblick in gute und schlechte Absichten der Menschheit.
Wilhelm Conrad Röntgen verzichtete darauf, seine Technik patentieren zu lassen. Damit konnte jeder Forscher und Arzt frei damit experimentieren. Am Eingang der Ausstellung steht eine Maschine in Originalgröße, die damals viele Hoffnungen weckte. Man traute ihr zu, fast alles heilen zu können. Doch gute Absichten führen nicht immer zu guten Ergebnissen. Das zeigt auch die Maske einer Frau aus dem Saarland, die an Lepra litt und eine missglückte Behandlung mit Röntgenstrahlung nicht überlebte.
Von Anfang an waren Röntgenstrahlen sowohl gefährlich als auch wertvoll. Fotos von Marie Curie und ihrer Schwester Irène erinnern an den Mut der Wissenschaftlerinnen, die auf den Schlachtfeldern Verwundete untersuchten und dabei ihr eigenes Leben aufs Spiel setzten. Ein weiteres Beispiel ist das sogenannte Pedoskop, das in den 1920er-Jahren in großen Kaufhäusern genutzt wurde. Es sollte dabei helfen, die richtige Schuhgröße zu finden, ohne die Schuhe auszuziehen. Dabei wurden jedoch sowohl die Kunden als auch das Verkaufspersonal unnötiger Strahlung ausgesetzt.
Marilyns Lungen
Röntgenstrahlen wurden zu der Zeit entdeckt, als die Wissenschaft gerade den Erreger der Tuberkulose gefunden hatte. Deshalb spielen sie seit Beginn eine wichtige Rolle im Kampf gegen Lungenkrankheiten. Für den Raum der alten Gebläsemaschinen wurde ein besonderes Glasfenster von Christoph Brech gestaltet. Es zeigt geschwärzte Röntgenbilder von Lungen, die in den Archiven der Stahlindustrie entdeckt wurden. Dieses Kunstwerk bleibt auch nach der Ausstellung dort und erinnert an die vielen Arbeiter des Standorts.
Der Blick der Röntgenstrahlen richtete sich vor allem auf die Lungen, aber auch auf die Wirbelsäule, die als vollkommen gerade gelten sollte. Er drang nach Belieben in die Körper von Frauen ein. Ein besonders machistisches Beispiel ist eine Röntgenaufnahme von Marilyn Monroes Brust, die bei einer Auktion verkauft wurde. Ein weiteres Bild zeigt die grausame Entfernung einer Spirale, die im Namen einer geburtenfördernden Maßnahme gewaltsam herausgerissen wurde.
Im Laufe der Geschichte wurden Röntgenstrahlen in vielen grausamen Situationen eingesetzt: Sie wurden verwendet, um südafrikanische Bergarbeiter zu kontrollieren, damit sie keine Diamanten stehlen. Sie wurden genutzt, um Menschen aufzuspüren, die sich in Koffern versteckt hatten. Und sie waren Teil der schrecklichen Zwangssterilisationen in Konzentrationslagern. Der Anblick der Drahtkäfige in Guantanamo, in denen jede Bewegung der Gefangenen sichtbar war, zeigt zudem, dass Unmenschlichkeit nicht immer moderne Technik braucht.
Eine ketzerische Kapelle
Einer der Höhepunkte der Ausstellung erwartet die Besucher*innen zur Hälfte des Rundgangs in Form einer Röntgenkapelle, die der belgische Künstler Wim Delvoye 2006 geschaffen hat. Diese monumentale Installation reproduziert die gotische Architektur, doch ihre Buntglasfenster spielen mit Tabus, den sie zeigen Skelette in sehr körperlichen Umarmungen oder knöcherne ausgestreckte Mittelfinger.
Die alte Stahlhütte ist der ideale Ort für dieses Kunstwerk, das über sechs Meter hoch ist. Auch das Gebäude selbst erzählt von seiner Vergangenheit. In der Fabrik wurde Stahl produziert, aus dem man Helme und Granaten herstellte. Während des Krieges ließ das Werk zudem Menschen zur Zwangsarbeit arbeiten, um die Kriegsproduktion zu unterstützen.
Ein Labyrinth aus durchsichtigen Mauern
Das Kunstwerk ist so hoch, dass darin das von Andreas Greiner geschaffene Skelett eines Masthuhns gezeigt werden kann, das fast so groß wie ein Dinosaurier ist. Eine Röntgenaufnahme hatte die gebrochenen Knochen des Tiers sichtbar gemacht, das unter seinem eigenen Gewicht zusammengebrochen war. „Dieses Werk ist ein Denkmal des Anthropozäns. Die Röntgenbilder zeigen auch, was wir den Tieren zumuten, die wir später essen“, erklärt Ralf Beil.
Die gewaltige Industriehalle aus Eisen und Backstein bietet viel Platz für große Projektionen. Auf riesigen Leinwänden werden mithilfe von Wellen Effekte sichtbar, die die Geheimnisse der Werke von Goya oder Leonardo da Vinci offenlegen. Auch komplexe Installationen finden hier Raum. Besucher können sich in einem Labyrinth aus durchsichtigem Mauerwerk bewegen, ein fast realitätsgetreues Satellitenmodell betrachten oder am historischen Ticketschalter des früheren Kinos von Völklingen verweilen. Kino, Literatur und Karikatur haben die Idee der Transparenz immer wieder kreativ genutzt. Die Architektur setzte ebenfalls auf Klarheit und bot durch große Fensterflächen weite Ausblicke. Selbst die gesamte Völklinger Hütte hätte nicht ausgereicht, um den Einfluss der Transparenz auf die Mode darzustellen, wie unter anderem eine X-Ray-Modenschau von Elsa Schiaparelli, Jean-Paul Gaultier und Iris van Herpen zeigt.
Der Ausstellungskatalog X-Ray, herausgegeben von Ralf Beil und Thomas Zaunschirm, erscheint am 18. März 2026 in deutscher und englischer Sprache im Verlag Sandstein Kultur in Dresden. Das reich bebilderte Werk enthält Kommentare sowie wissenschaftliche, literarische und politische Quellen seit 1895. Es wird im Abonnement für 40 Euro angeboten, im Museumsshop für 48 Euro und im Buchhandel kostet es 58 Euro.

Andreas Greiner, Monument for the 308, 2016.© Oliver Dietze / Weltkulturerbe Völklinger Hütte
Die Hand von Anna Bertha Röntgen, 22. Dezember 1895, war die erste veröffentlichte Röntgenaufnahme. Deutsches Röntgen-Museum, Remscheid© Hans-Georg Merkel / Weltkulturerbe Völklinger Hütte.