Oberrhein - Grosse Region

Eine gemeinsame grenzüberschreitende Erinnerung: das Fallbeispiel Zwangsrekrutierung

Die im Dezember gestartete Veranstaltungsreihe „Leben im Krieg und unter der Diktatur – Elsass 1939–1945“, die gemeinsam von der Universität Straßburg und den Archives d’Alsace organisiert wird, räumt der grenzüberschreitenden Erinnerungskultur einen wichtigen Platz ein.
Am Donnerstag, den 19. Juni, findet in der Universitäts- und Nationalbibliothek Straßburg der abschließende Konferenz- und Diskussionstag zum Thema Zwangsrekrutierung in Europa statt.

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Charles Meyer und René Leberlé, zwangsrekrutierte Elsässer in die Wehrmacht im Jahr 1943 bei Retz (Privatsammlung Charles Meyer).

Bereits im Januar wagte die Reihe  „Leben im Krieg und in der Diktatur, Elsass 1939–1945“ einen Blick über die Grenze: bei einer Konferenz und Podiumsdiskussion in Vogelgrun zum Thema „Elsässer und Deutsche aus Baden und der Pfalz – Wie lässt sich eine grenzüberschreitende Erinnerung an Krieg und Nationalsozialismus gestalten?“

Am Donnerstag, den 19. Juni, endet die von der Forschungseinheit UMR 3400 Arche der Universität Straßburg und den Archives d’Alsace gemeinsam organisierte Veranstaltungsreihe mit einem Abschlusstag - ebenfalls mit einem grenzüberschreitenden Charakter.
Im Mittelpunkt steht das Thema „Zwangsrekrutierte aus dem Elsass und anderswo“ – ein Tag des Austauschs zwischen Wissenschaft und Zivilgesellschaft in der Universitäts- und Nationalbibliothek Straßburg.

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Frédéric Stroh, Historiker und außerordentliches Mitglied der UMR 3400 sowie Mitorganisator des Zyklus. DR

„Historiografie und Erinnerung wurden lange Zeit auf nationaler Ebene konstruiert. Immer mehr wissenschaftliche Arbeiten entstehen heute mit einer grenzüberschreitenden Perspektive, etwa zwischen dem Elsass und Baden“, berichtet Frédéric Stroh, Historiker und außerordentliches Mitglied der UMR 3400 sowie Mitorganisator der Veranstaltungsreihe.

Schätze aus den Archiven

Frédéric Stroh, Autor einer Dissertation über die nationalsozialistische Repression gegen Homosexuelle im Elsass und in Baden, arbeitet derzeit auf Anfrage des Saarlandes zum gleichen Thema in dieser Region. Er verschweigt nicht die Herausforderungen, die die Arbeit in den Archiven der Nachbarn mit sich bringen, wie zum Beispiel die unterschiedliche Sprache, historischer Kontext und Archivierungsweise. Trotzdem betont er die Vorteile:
„Wenn man das Elsass isoliert betrachtet, kann man schnell zu dem Schluss kommen, dass es ein Sonderfall ist. Außerdem befinden sich viele Archive, die das Elsass betreffen, in Baden. Die Fragestellungen, die Forscher in Baden aufwerfen, unterscheiden sich von den französischen und ermöglichen neue Erkenntnisse.“ Frédéric Stroh hat zum Beispiel festgestellt, dass Homosexuelle in Straßburg oft strenger verurteilt wurden als in Karlsruhe. „Immer mehr deutsche Doktorandinnen und Doktoranden beschäftigen sich auch mit dem annektierten Elsass. Umgekehrt ist ihr Blickwinkel für uns sehr aufschlussreich.“

Europäische Geschichte

Der Thementag am 19. Mai zur Zwangsrekrutierung steht ganz in diesem Geist – und weitet den Horizont deutlich über Elsass und Moselle hinaus.

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Nina Janz, Historikerin am Institute for War, Holocaust and Genocide Studies d’Amsterdam. DR

„Das Phänomen der Zwangsrekrutierung betrifft nicht nur das Elsass und Lothringen, sondern auch Schlesien in Polen, Tschechien, Slowenien, Belgien und Luxemburg. Es hat eine europäische Dimension“, betont die Historikerin Nina Janz. Derzeit arbeitet sie am Institute for War, Holocaust and Genocide Studies in Amsterdam. Sie war mitverantwortlich am Warlux-Projekt der Universität Luxemburg zur Geschichte des Zweiten Weltkriegs im Großherzogtum beteiligt und wird den Auftakt der Straßburger Veranstaltung gestalten.

Zwangsrekrutierungen, persönliche Schicksale

Die Zwangsrekrutierung (oder „zwanghafte Einberufung“, deren Opfer im Elsass-Lothringen als „Malgré-Nous“ bezeichnet werden) in die deutsche Armee betraf in Europa zwischen 500.000 und 700.000 Menschen, darunter 8.000 in den belgischen Kantonen, 12.000 in Luxemburg und 130.000 im dem von den Nationalsozialisten einverleibten Elsass-Lothringen. Obwohl es viele Gemeinsamkeiten gibt, „ist jeder Fall in jedem Gebiet unterschiedlich. Im Elsass wird viel über die Zwangsrekrutierung gesprochen, doch man hört eigentlich wenig von den Historikern. Mit dieser Begegnung zwischen Archivaren und der Öffentlichkeit werden wir in der Lage sein, von einem oft vereinfachten Bild wegzukommen“, hofft Frédéric Stroh.

Die Familien beherrschen

Zu diesem Zweck stellen Forscher mehrere Einzelfallstudien vor. "Der nationalsozialistische Herrschaftsanspruch äußert sich nicht nur in militärischen, territorialen oder wirtschaftlichen Bereichen. Es ist wichtig, die Biografien der Zwangsrekrutierten und die Folgen für ihre Familien zu untersuchen, [um] den nationalsozialistischen Herrschaftswillen über die Bevölkerung zu verstehen", analysiert Nina Janz. Unter den am Vormittag besprochenen europäischen Fällen wird Inna Ganschow von der Universität Luxemburg das Schicksal eines Luxemburgers vorstellen. Am Nachmittag werden die Lebenswege von Elsass-Moselanern vorgestellt, die insbesondere von Jean-Noël Grandhomme von der Universität Lothringen und Raphaël Georges von der Universität Straßburg beschrieben werden.

Podiumsdiskussion mit einem Vertreter des Bundesarchivs Berlin

Für die Veranstaltung ist keine Anmeldung nötig, sie ist frei zugänglich und wird simultan auf Deutsch und Französisch übersetzt; sie will möglichst konkrete Zugänge schaffen. Am späten Nachmittag findet eine Podiumsdiskussion mit Historikern und Archivaren statt, darunter ein Vertreter des Bundesarchivs in Berlin. Das soll dem Publikum helfen, den Weg der Zwangsrekrutierten nachzuvollziehen. Vorgestellt wird außerdem ein neu erschienener pädagogisches Handbuch aus dem Elsass für Lehrkräfte zum Thema Zwangsrekrutierung: „Sous un uniforme qui n’était pas le leur“ (Unter einer Uniform, die nicht ihre war), verfasst vom Geschichtslehrer Daniel Fischer.

Der Tag endet mit einer Bürgerdebatte, die sich mit der Frage beschäftigt, wie die Erinnerung an die Zwangsrekrutierung weitergegeben werden kann. Teilnehmen werden Maxime Beltzung, Beauftragter für Erinnerungspolitik im Elsass, und Frédérique Neau-Dufour, zuständig für die Erinnerungsstrategie der Region Grand Est. „Wir wollen das Thema in die Familien bringen, damit sie selbst Forschungen anstellen, und eine Debatte zwischen der breiten Öffentlichkeit und den Verantwortlichen der Erinnerungspolitik entstehen kann“, hofft Frédéric Stroh.

Der Historiker fasst zusammen: „Elsass-Lothringen, Baden, die Pfalz, das Saarland, Luxemburg und Belgien, wo wir versuchen, eine gemeinsame Sprache zum Thema Zwangsrekrutierung zu entwickeln, die eine Vielzahl von Perspektiven berücksichtigt, könnten ein schönes Versuchsfeld sein, um darüber nachzudenken, wie eine europäische Erinnerung an den Krieg entstehen kann.“

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